Christiane Osann und Tobias Freude in der Galerie Süßkind 2021

Werte Unwerte – Unwerte Werte – Oder: einfach nur wert

Christiane Osann und Tobias Freude in der Galerie Süßkind 2021

von

Stefan Lindl

wenn es wert gibt, dann muss der unwert wertung sein.

nichts spricht dagegen, dass der unwert genauso gut wert sein kann.

Lange Zeit, mindestens 120 Jahre lang, galten uns die fossilen Brennstoffe alles. Uns, das sind die Gesellschaften, die unter dem Wort „Westen“ zusammengefasst werden, also die kolonialen und kolonialistischen Gesellschaften deren Zentrum und / oder Ausgangs- beziehungsweise Bezugspunkt Europa gewesen war. Christlich-monotheistische geprägt, dem missionarischen Gedanken keineswegs fern, werteexportierend und normierend, das Divergierende vernichtend. Der Westen bestimmte über Wert und Unwert. Kohle und Erdöl besaßen einen hohen Wert. Sie sorgten für Reichtum und Wohlstand des Westens und für Armut sowie Unterdrückung in den Kolonien. Fossile Ressourcen wurden gut genutzt und verhießen im westlichen Denken nur Gutes. Nebenbei erhöhte sich die CO2-Konzentration in der Atmosphäre und die Erdtemperatur stieg und stieg und steigt weiter, genauso wie der Meeresspiegel. Die meisten Nachteile werden vor allem die ehemaligen Kolonien davon haben. Doch der Westen kann rechnen und erkannte plötzlich, gegen den Klimawandel muss etwas getan werden, sonst ist der Wohlstand in Gefahr. Ebenso schnell waren die fossilen Ressourcen nichts mehr für die Zukunft wert. Eine Abkehr von ihnen scheint unumgänglich, ihr uneingeschränkter Verbrauch wird als Fehler erkannt. Werte sind volatil. Werte kommen, Werte gehen, Werte und Unwerte sind nur zugeschrieben, gesetzte Geisterwesen.

Christiane Osanns und Tobias Freudes Arbeiten, die von der Galerie Süßkind präsentiert werden, lassen sich lesen, als drehte sich alles um das Wert-Sein. Beide tun dies in ihrer besonderen Art und Weise. Christiane Osanns kleine Welten entfalten sich aus dem, was gesellschaftlich als Unwert gilt. Verpackungen, Abfall, die das Eigentliche, das Werte umhüllen und selbst nur als unwerte Hülle entsorgt werden, bilden für Osann den Anfang einer Geschichte, die sie erzählt. Es sind in der Tat narrative Miniaturen, voller Witz und voller Liebe, sind so nah in ihrer Ferne und so fern in ihrer Nähe. Osann ist Holzbildhauerin. Von Hauen kann bei ihren Figuren jedoch nicht die Rede sein. Viel besser scheint das Bild der Neurochirurgin zu passen. Mikroskopische Schnitte legen die Seele des Holzes frei, die uns zum Schmunzeln bringt. Ungemein humorvoll ist diese Lust am Erzählen: Aus Styropor, ehemals als Stoßschutz für ein technisches, wertvolles Gerät genutzt, wird ein Biotop mit Binsen und Goldfischen – feinst geschnitzt. In einer Tüte geht ein Irokese Baden. In einer Walnussschalenbadewanne nimmt ein kleiner Kapitän ein Bad und blickt auf sein Segelboot, das vor ihm schwimmt. Die Kombination aus Hüllend-Unwertem und den atemraubenden Mikro-Schnitzwerken von Christiane Osann vibrieren vor Gegensätzen. Die Mühe, die in den Miniaturen steckt, bricht sich an industriell erzeugten Produkten. Massenware gegen Einzigartigkeit. Mühe gegen Banalität. Ewigkeit gegen Ephemeres. Wertes gegen Unwertes. Handwerk gegen Pressmaschinen. CO2-Neutrales gegen Fossiles.

Kunst ist, was uns Betrachter:innen den Kopf verdreht und den Boden unter den Füßen wegzieht. Genau das tut Christiane Osann. Wir stehen vor ihrer Kunst und wissen mit unseren Werten und Normativen nicht mehr ein noch aus. Je länger der Blick währt, desto haltloser wird unser Glaube an das Feste und Unumstößliche, mit dem wir groß geworden sind.

Die Materialien Tobias Freudes Objekte besteht aus Stein und Zufall. Er kommuniziert und konserviert, wie er sagt. In der Tat, das tut er. Er kommuniziert im Konservieren und er konserviert das Kommunizierte. Und dabei geht es wieder um Werte, um den Abfall, der arglos wertlos aussortiert wird, aber auch noch um etwas anderes. Es sind zwei Schienen, die er in dieser Ausstellung präsentiert, wobei beide im Konservieren zusammenkommen. Freude schneidet aus Steinen Buchstaben, stellt damit in Stein gemeißelte Botschaften in die Welt. Sie sind nicht vergänglich, sie sind im höchsten Maße langlebig. Wenn die Megalithkultur Tobias Freude als Vertreter gehabt hätte, wir wüssten heute wofür Stonehenge aufgebaut wurde und müssten nicht vermuten. Sein Stonehenge hätte eine eindeutige Botschaft gehabt, vielleicht: FREUDE! Kryptisch ist bei ihm nichts, wenn dann verspielt. Diese Buchstabensteine gehören in das Mosaik seines momentanen künstlerischen Schaffens. Waren sie einst Botschaften für die Ewigkeit, geht er gegenwärtig weiter: Die steinernen Buchstaben werden konserviert, beispielsweise als Trockenwürste, die an der Wand hängen. Das Unvergängliche wird wie unsere Nahrung behandelt und noch einmal als Confit verarbeitet, als haltbar Gemachtes, wobei die Konservierungsmethode nicht so haltbar ist, wie das Konservierte. Er bricht mit der Erosion, mit dem Verfall, mit der Zeit, schreibt Stein Vergänglichkeit zu und konserviert es mit wesentlich Flüchtigerem. Ein Spiel dessen Reiz im Ironischen liegt, das bis in die Gefilde des Absurden, auch Surrealen reichen kann und an unserm Vertrauen in unser Wissen rüttelt.

Ein weiterer Strang seiner Arbeit knüpft an den Abfall. Genau genommen Abfall und Zufall. Aber das ist natürlich nicht wörtlich zu nehmen. Abfall ist nur die Wertung, die ich als Autor dieses Textes vornehme. Es sind Produkte, die zufällige Formen annehmen durch Kultivierungsporzesse und -strategien, genaugenommen durch das Obstpressen. Wird Obst gepresst, entsteht das primäre Zielprodukt: Obstsaft, der frisch getrunken oder fermentiert werden kann. Aber es entsteht auch Trester, das ausgepresste Obst- oder Gemüsegut. Seine Farbe, seine Form, seine Textur bilden sich nach dem Anwenden der Kulturtechnik des Pressens. Diese pflanzlichen Rückstände sind es, die einen ungemeinen Reiz auf Freude ausüben, ebenso auf uns Betrachter:innen. Tobias Freude sublimiert diese Rückstände, er macht sie erhaben, indem er sie konserviert: in Gläsern. Sie werden zu einem Wunder der Natur, das es zu musealisieren gilt. Was hinter Glas steht, das ist wertvoll. – Bei anderen Menschen landen diese Rückstände ungeachtet ihrer Gestalt auf dem Komposthaufen oder in der Biotonne. – Schade! – Doch in der Galerie Süßkind werden diese rückständigen Abfälle zum Augenschmaus – zu einer wahren Freude!

Uns wird ein weiteres Mal der Kopf verdreht und der Boden unter den Füßen weggezogen. Gelungen ist der Kunstgenuss.